Stellwerk Magazin

Unfinished Business

Vorwort

Bereits zum sechsten Mal präsentiert das Museum Ludwig in der Projektreihe HIER UND JETZT gegenwärtige Reaktionen auf kulturelle und gesellschaftliche Diskurse. Unter dem Titel „Dynamische Räume“ kollaboriert das Museum in diesem Jahr mit der Onlineplattform Contemporary And (C&) und legt seinen Fokus dabei auf den afrikanischen Kontinent sowie politische Themen wie Kolonialismus und Rassismus. Die von den beiden Kunsthistorikerinnen Julia Grosse und Yvette Mutumba gegründete Plattform definiert sich selbst als „ein dynamischer Ort, an dem Themen und Informationen zur zeitgenössischen Kunstpraxis aus Afrika und der Globalen Diaspora reflektiert und vernetzt werden“. Im Zentrum der Ausstellung steht das Langzeitprojekt „C& Center of Unfinished Business“. Dabei handelt es sich um einen partizipativen Leseraum, welcher je nach Standort erweitert wird. Ziel ist die Begegnung und der Dialog mit der jeweiligen Partnerinstitution und deren Bibliothek. In Köln werden neben den C&-eigenen Beständen zusätzlich ausgewählte Publikationen der Kunst- und Museumsbibliothek sowie des in Berlin beheimateten Empowerment- und Bildungsprojekts Each One Teach One e. V. (EOTO) für die Teilnehmenden zugänglich gemacht.

Gleich beim Betreten des hellen und offenen Leseraumes im Obergeschoss des Museums fallen mir die zahlreichen bunten und plakativ bedruckten Bucheinbände ins Auge. Wild gestapelt und in einem Holzregal aufgereiht stehen weitere Bücher und Magazine, die den Fokus auf die Kulturproduktionen aus Afrika und die Globale Diaspora legen. Sie tragen Titel wie: „Black in White America“, und „Dada Africa: Dialogue with the Other“. Man wird dazu eingeladen, sich in die Bücher einzulesen und auf Post-Its selbst Kommentare zu hinterlassen; dafür ist eine kleine Schreibecke vorgesehen. Der Leseraum konfrontiert die Besucherinnen und Besucher mit künstlerischen und theoretischen Positionen diesseits und jenseits des eurozentrisch geprägten Kunst-Kanons und provoziert durch die eklektische Zusammenstellung der Titel sowie die Möglichkeit zu kommentieren Diskussion und Reflexion.

© Contemporary And, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln/ Nina Siefke Installationsansicht C& Center of Unfinished Business © Contemporary And, Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke

Die gelben Zettelchen, die überall an dem hölzernen Regal und auf den Einbänden der Bücher kleben, sind unterschiedlich beschriftet. Oftmals steht auf ihnen nur ein einziges Wort, auf manchen scheint jedoch gleich ein ganzer Gedankenschwall seinen Platz gefunden zu haben. Ein Post-It mit der Aufschrift „prayers“ lässt erahnen, dass die Gedanken der BesucherInnen vor mir in diesem Kontext den jüngsten Opfern von rassistischer Gewalt galten. Durch diese Möglichkeit zur Mitsprache stellt die Ausstellung Bezüge zu aktuellen politischen Ereignissen her und die titelgebende Dynamik des Raums bleibt nicht nur abstrakte Idee: Die Bücher werden durch die Benutzung immer wieder neu angeordnet; der Raum lädt zum Erleben und Diskutieren ein und bietet die Möglichkeit, spielerisch Erkenntnisse zu gewinnen. Das Nachdenken und Reflektieren über Kolonialismus und Rassismus werden für mich zum zentralen Narrativ der Sonderausstellung. Bevor ich mich in den angrenzenden Raum begebe, hinterlasse auch ich auf einem kleinen gelben Zettel meine Gedanken.

© The Nest Collective Courtesy C& Commissions Filmstill aus „These Ones Stayed at Home“, aus der Serie „We Need Prayers“ © The Nest Collective

Links neben dem Leseraum werden in einem Durchgang auf einem Bildschirm Videoarbeiten der beiden KünstlerInnenkollektive „The Nest Collective“ aus Nairobi und „CUSS“ aus Johannesburg erstmalig im musealen Raum gezeigt. Die Kurzfilme spielen in Nairobi und Durban und zeigen alltägliche Szenarien, die sich einmal zu einem beklemmenden Kammerspiel und im anderen Fall sogar zu einem Horrorfilm entwickeln. Besonders eindrücklich wirkt auf mich der Film „These Ones Stayed at Home“, der größtenteils in vollkommener Dunkelheit spielt. Ein beunruhigtes Paar liegt nachts im Bett und hört Geräusche; im Nachbarshaus wird eingebrochen. Es ertönen Schreie, Pistolenschüsse und Hundegebell in der Dunkelheit. Das Paar überlegt, wie es eingreifen könnte und ob es die Polizei rufen soll. Der Film, der als Teil einer größeren Crime-Web-Serie 2016 produziert wurde, verhandelt die komplexen Moralvorstellungen, mit denen die BürgerInnen Nairobis durch eine Stadt navigieren, die manchmal sehr grausam sein kann.

© Frida Orupabo, Courtesy Frida Orupabo and Galerie Nordenhake Berlin/Stockholm/Mexico City, Foto: Gerhard Kassner Ohne Titel, 2019, Collage, mit Reißzwecken auf Aluminiumträger gepinnt © Frida Orupabo, Foto: Gerhard Kassner

In einem großen und hellen Raum, der sich nach dem Durchgang mit den Videoarbeiten eröffnet, werden Werke der KünstlerInnen Nkiruka Oparah und Frida Orupabo ausgestellt, deren Praxis sich vor allem durch die Reflexion afrodiasporischer Identität, die Befragung von Eigen- und Fremdrepräsentation und die Wiederaneignung von Bildern auszeichnet. Eine der schwarz-weißen Fotocollagen von Frida Orupabo zieht mich hier besonders an. Auf ihr ist eine Schwarze1Wir orientieren uns im STELLWERK an den Formulierungshilfen der Neuen deutschen MedienmacherInnen für eine differenzierte und vielfältige Berichterstattung. „Schwarz“ und „weiß“ sind politische Begriffe und beziehen sich nicht auf die Hautfarbe. Die Initiative „der braune mob e.V.“ schreibt: „Es geht nicht um ‚biologische‘ Eigenschaften, sondern gesellschaftspolitische Zugehörigkeiten.“ Um das deutlich zu machen, plädieren sie und andere dafür „Schwarz“ groß zu schreiben. Frau zu sehen, die vom Betrachter abgewandt auf dem Boden sitzt. Die Einzelteile ihres Körpers werden nur mit Reißzwecken zusammengehalten. Sie schaut über ihre Schulter, ihr Blick wirkt verängstigt. Ihr Unterkörper ist unbekleidet und es sieht aus, als würde sie ein Kind im Arm halten, das sie vor den Blicken des Betrachters zu schützen versucht. Schutzlosigkeit und Fragilität, aber auch der weibliche Schwarze Körper als Projektionsfläche für sexuelle Fantasien werden in der Darstellung aufgerufen. Das Bild hängt mir nach.

In der informativen und zugleich emotionsgeladenen Atmosphäre der „Dynamischen Räume“ wächst das Bedürfnis, sich weiter mit den aufgeworfenen Themen auseinanderzusetzen. Denn auch nach dem Verlassen des Museums und auf dem Weg nach Hause bleiben die Gedanken an Rassismus und Kolonialismus omnipräsent. Die Ausstellung bietet die Gelegenheit, sich selbst und den eigenen Blick zu hinterfragen, indem sie u.a. zeigt, wie Rassismus und Stigmatisierung fortwährend Leid produzieren; und dass dieses Leid oftmals mit unserem Blick und der Markierung des „Anderen“ beginnt.

HIER UND JETZT „Dynamische Räume“ ist noch bis zum 30. August 2020 im Kölner Museum Ludwig zu sehen. Eintritt: 7,50 Euro (ermäßigt) bis 11 Euro.

Headerfoto: Streetkid2, CUSS & Vukani Ndebele, Filmstill aus Streetkid, 2020 © CUSS & Vukani Ndebele Courtesy C& Commissions

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Hier findet ihr weitere Informationen zur Ausstellung auf der Website des Museum Ludwig
Hier geht es zur Website von Contemporary And